text

Harald Kröner

Ausstellung  „Der alte Garten“ von Anne Schubert  Betriebswerk Heidelberg  

Wir sind mit diesem Abend Teil des Literatursommers in Heidelberg mit dem Themenschwerpunkt Frauen in der Literatur.

Um 19 Uhr folgt der  Vortrag des Giessener Germanisten Joachim Jakob der in die literarisch-biographischen Zusammenhänge des um 20 Uhr stattfindenden Konzertsmit Kaschnitz-Vertonungen einführen wird.

Ich versuche mich entsprechend kurz zu fassen!

Ich war für diese Ausstellung auf der Suche nach einer Frau, die einen literarischen Bezug hat – oder herstellen könnte – zu Marie Luise Kaschnitz. Und da fiel mir Anne Schubert ein.

Sie ist Studiofotografin, hat aber auch immer freie Projekte gemacht , und dazu gehört unter anderem das Label „Wahlverwandt“ in dem sie zusammen mit Angelika Hartmann Editionen produziert, die sich mit Sprache beschäftigen, „Neuen Raum für Worte schaffen“ wie sie es ausdrücken, Romananfänge, oder Märchen-Enden, Philosophie, das Ganze durchaus listig aus der Sicht der ProduzentINNEN, so  kann schon mal ein Satz von Wittgenstein als Stickerei auf einem Wischtuch oder gedruckt auf der Unterseite eines Bügeleisens auftauchen.

Darüberhinaus macht Anne Schubert seit einiger Zeit diese eigenartigen, leicht morbiden Blumenstilleben vor einem tiefschwarzen Hintergrund . Sie fotografiert schon seit längerem digital und bearbeitet auch digital nach, weil sie genau dadurch die Schwärze in ihren Abstufungen sehr genau kontrollieren kann.

Interessanterweise gibt es in etwa vergleichbare Arbeiten von Lucia Simons und der wahrscheinlichen Pionierin Katinka Matson, die mit hochauflösenden Flachbettscannern arbeiten, bei Matson zunächst aus wissenschaftlichen Arbeit heraus, bei Simons möglicherweise die faszinierende Eigenschaft, es nicht mehr mit Pixeln zu tun zu haben bei totaler Schärfe und vollkommenem Schwarz als Hintergrund.

Der direkte Bezug zu Kaschnitz in der Ausstellung wurde dann aber ihr Märchen „Der alte Garten“, weil uns bei der Begehung hier irgendwann auffiel, dass die Brache neben dem Betriebswerk eigentlich eine Art alter Garten ist, der vor sich hin wuchert und träumt, möglicherweise wie im Märchen von der vorrückenden Zivilisation bedroht, könnte er schon bald verschwunden sein, wenn die weitere Entwicklung des Geländes fortschreitet, die ja in Planung ist.

Anne Schubert hat dann beschlossen, nachts in diesem verwilderten „Garten“ zu fotografieren und die Studioschwärze durch die natürliche Schwärze der Nacht zu ersetzen.

Für uns beide überraschend stürzte sie dieser Prozess zunächst in tiefe Ratlosigkeit. Dass wir mit einem Begriffspaar Wildnis / Zivilisation  umgehen, war klar, dass es aber auch um Kontrolle versus Kontrollverlust ging, zeigte sich erst, weil es in der ausgesetzten nächtlichen Situation keine Motive gab, die sie für sich identifizieren konnte, es wächst eben alles als Wildwuchs durcheinander, damals blühte auch noch nichts, die einzige Kontrolle  bestand in der Kadrierung eines Auschnitts, die Entscheidung , dieses oder jenes zu fotografieren wurde eher zu einem Draufhalten als zu planvoller Setzung.

So dass sie letztlich mit köstlicher Verzweiflung aus der Sache herauskam, weder mit einer Idee, wie man es anders hätte angehen können , noch mit der Sicherheit, ob das jetzt eigentlich gültige Aufnahmen seien oder nicht.

Genau dieser Antagonismus  war dann aber faszinierend, sie hatte die perfekt kontrollierte Studioarbeit eingetauscht gegen einen halbdokumentarischen, offenen Prozess.

Die Kinder, die im Märchen in den Naturraum des alten Gartens eindringen, machen im Grund eine mystische Reise: sie werden von den dort lebenden Wesen empfangen oder auch angegangen und lernen allmählich die Zusammenhänge auf dieser Ebene zu begreifen. Genau so erging es Anne, die in dieses unbekannte Terretorium hineinging – im wörtlichen wie auch im  übertragenen Sinn, indem sie nämlich auch relativ ungeplant Aufnahmen machte in einer Weise wie sie es normalerweise nie macht. Und hat dann in der Folge dieselbe Infragestellung ihrer Person im unübersichtlichen Naturraum erlebt wie die Kinder.

Uns schenkt sie in dieser Installation und den Aufnahmen eine bleibende Erinnerung an einen Zustand der irgendwann mal ein „vorher“ gewesen sein wird.

Anne Schuberts Bezugspunkt für die Stilleben  in der Ausstellung ist die Malerei im Barock, die ihre Blüte  im 17. Jahrhundert vor allem in Holland und Flandern hatte. Die Namen kennen wir nicht mehr , Balthasar von der Ast, Jaques de Gheye, Wilhelm Kalf, Pietr Claesz waren wichtige Vertreter dieser Kunstrichtung. Die Bilder lebten von versteckten Bedeutungen und Andeutungen, waren oft symbolisch aufgeladen, vor diesen diffus dunklen Hintergründen, mit täuschend echter Darstellung bis hin zum trompe l`oeil.

In diese Zeit fällt interessanterweise auch ein aufkommender Kunstmarkt jenseits der Hofmalerei, der vielleicht auch in der Folge eine Rolle bei der zunehmenden Verflachung des Genres spielte bis es zur reinen Dekoration verkam und von einer Rückkehr zu Natur und Natürlichkeit bei Jean Jaques Rousseau oder der  Einfachheit der Alltagsgegenstände etwa bei Chardin abgelöst wurde.

Installativ haben wir eine Form gefunden, die wie ein unterschiedlich fokussierter Blick funktioniert, wie Facetten eines Kristalls , es gibt Spiegelungen, vergrösserte Motivausschnitte, die vertikale Verteilung der Bilder  in etwa analog zur Vorlage draussen, also ein bewegtes und bewegliches Bild, das eigentlich unserer Wahrnehmungstätigkeit entspricht: wir nehmen etwas – wie man so sagt – in den Blick, zoomen heran um Details zu entschlüsseln, gehen wieder zurück um das Detail im Ganzen einzubetten und einen Überblick zu bekommen.

Anne Schubert wollte das akut Dokumentarische, dieses Reinblicken in die Schwärze abbilden, indem sie mit einfachsten seidenglänzenden Abzügen arbeitete, dann stellte sich das als klimatisch schwierig dar und wir mussten die sich wellenden Abzüge aufkaschieren, sicherheitshalber produzierte sie parallel Papierabzüge als Fine Art Prints. Diese sind insofern faszinierend, als sie eine samtige Schwärze entwickeln die insgesamt fast näher an der Malerei wohnt als an der Fotografie, so dass wir entschieden: die Installation bleibt genauso wie sie ist und es gibt  eine Print-Edition auf Bütten in einer 5er auflage, die sie einsehen können.

Für mich als Künstler ist jetzt interessant, wie es plötzlich Stellen gibt, an denen Referenzen aufspringen: es gibt Motivsplitter die mich an den Maler Peter Doig erinnern, oder an den Fotografen Wolfgang Tillmanns, der unsere Augen wie kein anderer  für diese lakonischen Schulterblicke geschärft hat, das In-den-Blick-nehmen des Unscheinbaren. In all dem was hier jetzt sehr prozessual entstanden ist, fangen diese Nachbarschaften – vielleicht zwangsläufig – an, aufzuleuchten.

Die Romananfänge von Anne Schubert begleiten das Geschehen mit Stempelfarbe auf Putzlappen, wir haben natürlich den Anfang des „Alten Gartens“, Colette amüsierte einen der Musiker sehr: „Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich vor unbedeutenden Leuten zu hüten.“

Mir gefällt besonders: „Was ist das ? … was ist das ?“ Man glaubt kaum, dass ein Roman so anfangen könnte und dann ist es nicht irgendeiner sondern: die Buddenbrooks von Thomas Mann.

Fotografiert wurde unsere Installation in einer Juninacht. Wir enden literarisch, mit meiner absoluten Lieblingsstelle aus dem Langgedicht Alfabet von Inger Christensen die genau davon handelt:

 Die Juninacht gibt es, die Juninacht gibt es,
    der Himmel, endlich wie erhoben zu himmlischen Höhen

und zugleich so zärtlich gesenkt

wie wennTräume gesehn werden können bevor sie geträumt werden;

ein Raum wie ohnmächtig,

wie mit Weiße gesättigt,

ein stundenloses Läuten von Tau und Insekten,

und keiner in diesem fliegenden Sommer, keiner

begreift dass es den Herbst gibt,

den Nachgeschmack und das Nachdenken gibt,

nur die schwindelerregenden Reihen

dieser rastlosen Ultrageräusche gibt es

und das Jadeohr der Fledermaus,

dem tickenden Dunst zugewandt;
    nie war die Neigung des Erdballs so herrlich,
    niemals die zinkweißen Nächte so weiß,
    so wehrlos aufgelöst, milde ionisiert, weiß,

und nie die Unsichtbarkeitsgrenze so nahezu berührt; 

Harald Kröner, Juli 2018

Jürgen Palmer

Jürgen Palmer

Zur Ausstellung Anne Schubert – Schönheit lauert überall

Galerie Norbert Nieser / 29. April 2017

Blumen sind ein heikles Sujet. Und so verstehe ich auch den Titel der Ausstellung „Schönheit lauert überall“ als Warnruf.

Die Blume ist beliebtestes Motiv in Aquarell- und Seidenmalkursen, soll als post-zu-spät-expressiv-gepinseltes Blütenmotiv beim Zahnarzt für heiteres Vertrauen und Entspannung sorgen, langweilt von Millionen Geburtstags- und Osterkarten herunter und lässt sich fix und fertig gerahmt und verglast kurz vor der Kassenschlange noch als letztes auf den Ikeawagen stapeln. Kurzum, die Blume landet als Motiv mit ziemlicher Treffsicherheit im Abseits des seicht Dekorativen. Ich habe nur spaßeshalber in die Google-Bildersuche die Sentenz „Blumen in der Kunst“ eingegeben – es kann einen gleich der Schlag treffen.

Die Geschichte der Blumenmalerei, von den Blumenstillleben des Barock über die wunderbaren Aquarelle der Maria Sibilla Merian zu den Farb- und Lichtexplosionen der Impressionisten, weiter zu Henri Fantin-Latour, der mit seinem Realismus gegen jene Widerstand leistete, zu Vincent von Gogh, der den Sonnenblumen geradezu Skulpturales abgewann, Emil Nolde, der Blütenhaftes in expressiv-sinnliche Farbschlachten verwandelte – begleitet von pathetisch-selbstverliebten Kommentaren übrigens –, weiter zu Georgia O‘Keeffe, die die Sinnlichkeit der Blüte in den formatfüllenden Fokus rückte und darin vaginale Formen entdeckte, bis schließlich zu Andy Warhol, der mit seiner über 1500 Farb-Variationen umfassenden Blumenbild-Serienproduktion das Motiv als Bildungsbürgertapete entlarvte… dieses Gepäck muss man kennen, wenn man dem Thema noch etwas künstlerisch Relevantes abgewinnen will.

Und wer dies heutzutage mit der Kamera machen will, dessen Gepäck lastet noch viel schwerer, denn er muss sich nicht nur in den Vergleich mit der Malerei setzen, sondern auch mit der Fotografie vor ihm – sei es die des Karl Blossfeldt oder des Edward Steichen – um nur zwei zu nennen. Dazuhin hält er ein Werkzeug in den Händen, das von Haus aus „objektiv“ arbeitet, also nicht für die Transformation des Motivs vorgesehen ist – Naturkundebücher gingen ihres Zaubers verloren, seitdem man die liebevoll gezeichneten Illustrationen durch Fotos ersetzt hatte.

Die Blume teilt ihr Schicksal mit dem Sonnenuntergang. Als Naturphänomen mit großem Berührungspotential für die menschliche Seele, tabuisiert sie Ihre fotografische Abbildung. Aber der fotografische Wahn grassiert und wirkt sogar auf die Wahrnehmung des Naturphänomens zurück, weshalb mittlerweile von kitschigen Sonnenuntergängen per se  geredet wird.

Es liegt also ein Minenfeld zwischen diesen Naturerscheinungen und ihrer Abbildbarkeit, über das auch ein Profi erst einmal heil hinwegkommen muss. Auch der berühmte Robert Mapplethorpe hat das nicht vermocht, und seine ikebanaartig und völlig ironiefrei für die Kamera inszenierten Lilien sind absolut ikea-kompatibel.

Ja, es braucht schon so etwas wie kritische Reflexion, Ironie, einen Ansatz von Persiflage, Brüchigkeit, wenn man nicht in die Falle der Kitschproduktion geraten will. 

Die Blumenbilder der Anne Schubert schaffen diese Gratwanderung. Sie sind für mich wie ein zerbrochener Spiegel. Wenn ein Spiegel in Scherben geht, werden die einzelnen Scherben zu Facetten. Jede einzelne Facette zeigt einen Teil des zerbrochenen Spiegelbildes in einem anderen Winkel, und wenn man es vermag, die einzelnen Facettenscherben beim reflektierenden Betrachten wieder zusammenzusetzen, gelangt man zu einem Gesamtbild, das umfassender und reichhaltiger ist, als jenes, das der intakte Spiegel zu zeigen vermochte.

Das Stillleben wird in anderen Sprachen „tote Natur“ genannt – z.B. im Französischen „Nature Morte“. In diesen Bildern hier ist er stets anwesend, der Tod: Kaum einmal taucht eine Blüte auf, der man den Prozess des Verwelkens, des doppelten Todes (zuerst abgeschnitten, dann allmählich verschrumpelnd) nicht ansehen würde. Auch die Insekten haben ihr Leben hinter sich, und so schwingen Memento mori – der Gedanke zu sterben – und das Vanitas-Motiv – die Ermahnung bezüglich Eitelkeit und leerem Schein – stets mit, allerdings eher als mit leichter Hand vorgetragenes Zitat, denn als ernster Gegenwartsbezug.

Das delikate Licht weist zurück bis eben zur Malerei des Barock, und die Detailversessenheit der Darstellung spielt auf die höchste handwerkliche Könnerschaft der Lasurtechnik an, die in den zahlreichen Schichtungen von der tiefsten Dunkelheit bis zum Lichtreflex die Gegenstände geradezu aus der Nacht schält. Die Art des Arrangements allerdings findet ihre Dialogpartner eher in der modernen Malerei des 20ten Jahrhunderts. Denn im Gegensatz zum wohlgesetzten Arrangement des Barock-Stilllebens, scheint auf diesen Nachfahren das Chaos zu regieren. Wo ist die ordnende Hand, die für den ausgewogenen Rhythmus, den Wechsel von Spannung und Entspannung, Schwerpunkt und Zwischenraum sorgt?

Sie ist da, aber in der Wahl ihrer Entscheidungen komplexer und schwerer zu durchschauen. Vor der Kamera findet das Gegenteil von Ikebana statt: Nicht der wohl ausgewogene, tief empfundene Zusammenklang weniger Elemente, sondern das verwirrende Zusammenspiel dutzender oder hunderter Einzelentscheidungen, die sich zu einem großen Ganzen fügen und in scheinbarer Zufälligkeit und makrokosmischer Unruhe eine Vielzahl an Ordnungen und Bezügen zu entdecken ermöglichen:

Einzelne Teile (Blüten, Blätter, Insekten, Stängel) oder gar deren Bestandteile (ein Staubgefäß, eine Maserung, der Bruch eines Stängels), unmittelbare Nachbarschaften (Zugeneigtheit, Abgewandheit, Überlappung), ferne Relationen, die Linien und Netze bauen oder das ganze Bild… die Betrachtungsmöglichkeiten sind vielfältigst. Vor allem auf den dichteren Bildern lässt sich schier endlos entdecken, und dem Gedankenflug wird ein famoser Startteppich bereitet.

Ich erkenne sogar, dass sich zwischen dem glänzenden, kleinen Totenschädel – den ich in seiner fast niedlichen Spielzeughaftigkeit auch als Persiflage lese – der plattgedrückten und schwarzgetrockneten Kröte und der Libelle, die sich der fleischigen Öffnung der größten Rose im Bild annähert, ein Goldenes Dreieck aufspannen lässt (ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem das Verhältnis von Schenkel zu Grundseite Phi ist), und es drängen sich mir gleichermaßen Ideen von der perfekten Geometrie und Schönheit der Schöpfung wie auch von Sexualität und Entstehung des Lebens und dessen Ende durch den Tod auf.

Ob hinter dieser und anderen formalen Entdeckungen Kalkül oder Intuition der Urheberin stecken, finde ich übrigens nicht entscheidend.   

Schönheit – jetzt ist das Wort über die Lippen. Ein Begriff, der wie ein Geist umherirrt und keine Ruhe findet… auch ein geschmähter Geist.

Peter Handke beginnt seinen „Versuch über den geglückten Tag“ mit der Herbeirufung eines Selbstbildnisses des Malers William Hogarth im London des 18. Jahrhunderts. Auf der Palette des Malers liegt eine sanft geschwungene Linie, die sogenannte „Line of Beauty and Grace“ – Linie der Schönheit und der Anmut. Und er fragt sich später im Buch: „Entspricht es nicht unsereinem jetzt, daß solch ein Gebilde immer wieder abbricht, ins Stottern, Stammeln, Verstummen und ins Schweigen kommt, neu ansetzt, Seitenstrecken nimmt – dabei jedoch zuletzt wie eh und je auf eine Einheit und etwas Ganzes hinzielt?“ 

Schönheit in der künstlerischen Ausdrucksform ist ohne die Berücksichtigung der Zerstörung und Brüchigkeit enthaltenden Wahrheit nicht möglich – oder sie zeigte sich eben als verlogene Idealisierung – als reiner Kitsch. 

Die Linie auf William Hogarths Palette ist eigentlich gar keine pure Linie. Sie hebt sich teilweise von ihrem hölzernen Grund ab und wirft dort, wo sie sich noch oben wölbt, zarte Schatten. Fast eine lang gezogene Lanzette, die sich anfassen und aufheben ließe. Vielleicht spielt der Maler hier auf die Illusion der Räumlichkeit an, einer Räumlichkeit, die unser Auge durch Täuschung auf einem zweidimensionalen Bildgrund zu sehen glaubt. Seit der Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance und bis zu Ihrer Zerstörung durch Kubismus und Expressionismus beherrschte diese Täuschung die Kunst der westlichen Hemisphäre. Die moderne Malerei –  Farbfeldmalerei oder abstrakter Expressionismus – fordert das Bekenntnis zur flachen Leinwand, auf der sich flache Ereignisse abspielen. Aber für die Fotografie bleibt die Illusion des Raumes ein Selbstverständnis, denn die vordringlichste Eigenschaft eines fotografischen Apparates besteht nun einmal darin, den Raum vor ihm mittels einer Linse auf ein flaches Medium zu projizieren. Und das geschieht perfekt und ohne dass jemand mit Rastern und Hilfslinien die Verkleinerungsfaktoren berechnen müsste.

Auch die Bilder von Anne Schubert machen da keine Ausnahme – der Apparat funktioniert wie immer. Allerdings greift die Fotografin vor der Aufnahme in die Dimensionen des Sujets ein und zwingt es in Richtung Fläche. Sie treibt auch damit ein Spiel mit Verweisen (es ließe sich auch an die gepressten Blüten in einem Poesiealbum denken, auch wenn hier noch etwas Spielraum herrscht), sie schlägt dem Vorgang der Projektion ein Schnippchen und dreht das Verhältnis um: die Negierung des Raumes auf der Fläche der modernen Malerei, die man der fotografischen Optik nicht aufzwingen kann, zwingt sie dem Objekt vor der Kamera auf, betreibt also zuerst eine Art von „Materialmalerei“, bevor sie den Auslöser drückt und landet dabei noch ganz nebenbei einen Seitenhieb gegen die allzu netten Gepflogenheiten der Floristik. 

Durch einen eigentlich einfachen Trick übrigens: die Bilder sind für die Vertikale gedacht und gemacht und suggerieren dort ein gewohntes Oben und Unten, die Arrangements liegen bei ihrer Aufnahme aber in der Horizontalen und verlieren durch die Schwere ihren Teile an Tiefe. So werden sie – als Fotografie wieder aufgestellt – zur Hecke, zum Wandteppich, ja sogar zu einem Blumenstrauß in der Vase, der seiner Vase wie durch Zauberhand verlustig ging und sich nicht recht an die Regeln der Schwerkraft und der Perspektive halten will. In der Malerei wäre das keine große Auffälligkeit, festgehalten aber durch den unbestechlichen Apparat ist es eine „Verrücktheit“.

Die Klugheit, mit der die Fotografin dem Motiv der Blume zu Leibe rückt, schafft also genau jenen Facettenreichtum, der über Motiv, Bildgeschichte, Malerei, Schönheit, Leben, Tod und den fotografischen Akt selbst reflektiert – und das ohne jeden dogmatischen Impetus, sondern mit Sinnlichkeit und spielerischer Leichtigkeit – und macht die Betrachtung der Bilder nicht nur zum ästhetischen, sondern auch zum intellektuellen Vergnügen.

Prof. Uwe J. Reinhardt

Prof. Uwe J. Reinhardt zum Projekt ZU MEINER EIGENEN VERBLÜFFUNG von Anne Schubert

Irgendwas stimmt nicht. Nachdem ich die Fotografien zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich, es würde sich bei der Maskenfigur um einen Primaten handeln, der wie im Sciene Fiction-Film mitspielen wollte und der sich in die japanisch anumutenden schwarzweissen Lichtbilder geschoben hat. Vermutlich von den Guerilla Girls so sehr optisch geprägt und konditioniert, die ich einmal im Whitney Museum eine Ausstellung habe stürmen sehen. Und ich dachte an japanische Bildbände der 60er Jahre, in denen oft etwas sehr merkwürdiges hinter einer banalen, also einfachen Bildsprache versteckt wird. Das Schaudern in den tiefen Schwarztönen. Ich sah die Bilder an einem Sommerabend zum ersten Mal und lief in die Irre. Nun, ich mag alle Arten von Haustieren auch nicht besonders, Aquarien einmal abgesehen. Und ein Aquarium kommt ja auch vor, oder täusche ich mich auch hier? Einige Zeit später wurde auch mir klar, ein Probedruck lag inzwischen auf meinem Tisch, dass es sich um einen Hundemenschen handelte. Da ging die Phantasie dann auch in eine neue und explodierende Rechercherichtung. An Windhunde erinnerte ich mich, weil ich als Kind einmal mit meinem blöden Onkel auf der Hunderennbahn gewesen bin, wo man lustige Hüte trug und auf den Gewinner wetten konnte. Glücksspiel mag ich auch nicht besonders, wie Hunde. Die Fotografien erscheinen so ruhig und selbstverständlich, dass mir keine Frage aufkam, zunächst. Das passte alles so sehr gut zusammen und dennoch war etwas auch falsch, stimmte nicht. Ähnlichkeitsgedanken. Jemand hat einmal alte Ehepaare mit ihren Hunden fotografiert, deren Ähnlichkeit wir uns dann schön einbilden können. Aber hier gibt es nichts zum einbilden. Es ist jeweils ein Mensch mit einer Hundemaske auf dem Kopf zu sehen. Ein Hundemensch wird es wohl kaum sein. Oder verschwört sich hier etwas? Afghanischer Windhund. Vom Hindukusch. Das wiederum klang wie Alarmglocken.

Was also soll das, wozu ist es gut und was will uns dies sagen? Klar, alle Tiere sehen sich manchmal und entsprechend abgelichtet und eingebildet irgendwie ähnlich mit dem einen oder anderen Menschen. Ein Formspiel der Ähnlichkeiten. Ein verblüffendes Phänomen. Menschen mit Hunden gibt’s es natürlich allüberall zu viele eigentlich und die Literatur ist voll von Pudeln und Kernen. Erst dachte ich ja, es wäre irgendein zotteliger Pudel, der Pate für eine Maske war. Goethe oder Schopenhauer. Aber auch das nur so eine Idee. Lange Zeit versuchte ich die Bilder zu betrachten ohne die seltsame Figur zu beachten. Aber das ging nicht auf Dauer.

Die Orte der Bilder sind unverdächtig, es gibt Räume, Landschaften, im Wald, am Meer. Das ist das Panorama der ganzen Welt, ich kann keine Erklärung darin finden, die Fotografin reist offenbar umher und trifft überall maskierte Menschen oder halbe Hunde. Die Orte und Situationen sind schön und nur durch die maskierte Form werden sie wunderlich. Die Figur ist jeweils ruhig und im Stillstand getroffen, irgendwie ein Porträt ohne Porträt sein zu können. Aber es wirkt angekommen, geradezu Zuhause. Die Bilder erschienen wie Dioramen im naturhistorischen Museum und eben jetzt frage ich mich, ob nicht alles im Studio oder Holodeck entstanden ist. Irgendwie ist die maskierte Figur immer plötzlich und selbstverständlich da; einigen wir uns mal vorläufig darauf, dass es keine Hundemenschen gibt. Obwohl es ja Meerjungfrauen und Einhörner auf jeden Fall gibt. Es ist kein Spiel, keine Provokation und auch kein Spass. Es verbirgt etwas im Offensichtlichen, verhüllt etwas in der Tarnung. Aber was? Ich brauche meine ganze Vorstellungskraft, um zu entdecken wo dieses geistige Zuhause liegen könnte, im plötzlichen Erscheinen der Idee.

Man blickt hinein in die Szenerie und entdeckt nichts anderes. Es gibt nichts Seltsames außer dem Seltsamen höchstselbst. Wunderliche Bühnenbilder für eine Oper, für eine Komödie, eine Tragödie doch? Masken gehören auf Bühnen. In die Szenografie. Blick ins Land, in die Zimmer, Hotels oder Badewannen. Pools kommen oft vor, das erinnert an Krimis oder Kindheiten. Ein Schneewald. In den Bergen. Filmsets? Modeszenen kommen einem in den Sinn. Gartenszenen, die ohne Maske poetisch wären. Am See, am Tümpel, am Teich? Bei der Kirschblüte? Im Supermarkt. Wieder im Pool, diesmal tauchend. Abtauchend. Wir haben zu viele Spielfilme gesehen, die uns gleich ganze Drehbücher einblenden. Manchmal tänzelt der Bär, also die Figur, wie Julia am italienischen Fenster oben. Es wird gebacken, was auch wieder an Hexen denken lässt. Es ist kurz vor 6 Uhr. Im Landhaus. Ein sehr großes Brötchen und Kaffee. Auf dem Feld, am Hügel. In einer Küche, eilig. im Aquarium, also dahinter eher. In einer edlen Wohnung. Am Wasser, am Meer. Auf einer Liege, am Wintersee. Das liest sich wie ein Gedicht nun. Ein Mann in der Küche. Unter dem Baum bei der Landpartie. Im Billigflieger. Und ein Hund mit Hund, mit zwei Hunden. Eine banale Spülmaschine wird eingeräumt. Im Künstlerinnenatelier. Im Hörsaal oder Büro? Im Schwarzweißwald.

Irgendwas ist in dieser Ruhe und Konzentration auch unbehaglich. Verstörend. Sei immer größer als der Augenblick, lese ich. Was kippt aus der Balance? Diener zweier Herren. Ein Mythos. Wir wissen es nicht. Die Maske. Verhüllendes Entbergen. Aussicht. Offene Tage und milde Gestimmtheit. Nichts ist bedrohlich. Die Felder der Bilder sind Ausgangspunkte für Geschichten. Als Kind kommt einem das niemals merkwürdig vor. Und uns täuscht dieses Verstecken und Tarnen und Verzaubern, weil wir dazu keine Orientierung haben oder keine Phantasie. Wir brauchen Orientierung. Sind es Märchen? Oder Spiegelungen? Oder ist ein getarnter Schamanismus am Bilderwerk, der uns in der Verwirrung weiter ins Labyrinth drücken will. War nicht  im antiken Theater auch eine Maske von zentraler Bedeutung und in der chinesischen Oper oder im japanischen Nō-Theater? Harlekins und Bajazzi erinnern mich an venezianische Nächte und Sinnbilder für merkwürdige Rituale. Aber die Gesichtsverkleidung ist ohnehin suspekt, den Herren dieser Welt: Brauchtum hin oder Schutzmasken her. Hunde sind vom Vermummungsverbot ausgenommen. In Bolivien, sagt jemand neben mir, würden Schuhputzer das Gesicht verhüllen (ob das stimmt, glaube ich nicht). Mehr erinnert es mich an das lyrische Ich eines Peter (Achtung:) Gabriel der Band (Achtung:) Genesis, der als Fuchs („Foxtrot“) oder alter Mann erschien. Wer weiß was in Masken so alles getrieben wird? Bankräuber oder Rapper sind da schon einmal harmloser dabei. Schutz. Tarnung. Verdrehung.

Da passt der Afghanische Wundhund auch doch ganz gut dazu, der schon 400 v. Chr. in den Nomadenlanden unterwegs war, geradezu geeignet für das Privileg der Beizjagd durch die Steppe. Steppe übrigens kommt in den Fotografien auch nicht vor. Ist auch weit weg, also die Steppe. In Wirklichkeit ist dieser Hund aber besonders in England beliebt, für Windhundrennen und weitläufige Spaziergänge. Aber die Engländer sind raus bei solchen Sachen. Ist es also doch ein Experiment, um uns auf den Leim zu führen? War nicht der Pudel auch teuflisch was anderes? Bestimmt ist alles ein Missverständnis, eine unverstandene Maskerade, eine geplante Überforderung. Es regiert die Tyrannei der Verkleidung. Papageno. Wenn es doch eine Oper wäre, welche Musik würde passen? Die Bilder sind ja doch so still und angehalten, so beruhigt und langsam bedacht. Keine Blendung. Zitate aber überall, sicher als Hommage gedacht an die Collage und verdrehende Montage.

So sollen auch die Hunde sein, sanft, ruhig und unauffällig – naja, kann man so nicht wirklich sagen. Jedenfalls amtliche Jagdhunde mit Patent. „Sein Gang gilt als stolz, was auch sein Wesen wiedergeben dürfte. Unabhängigkeit und absolute Ruhe sind Markenzeichen dieses Hundes in jeder Ausbildungsart. Jedoch sind Afghanen auch sehr sensibel und können bei falscher Handhabung misstrauisch gegenüber Fremden werden. Mit Kindern kommen sie gut klar, jedoch sollten diese auf Grund der Größe der Rasse schon etwas älter sein, um mit dem Hund alleine Gassi zu gehen.“ Das Lexikon der Netze weiß ja alles ganz genau. Das lange und seidige Fell darf alle Farben aufweisen, wobei die Farben Rot, Creme, Silber, Schwarz, Schwarzbraun, Silber-schwarz, Blau, elfenbeinfarben und Domino am häufigsten vorkommen. Oder ganz weiß. „Kopf mit und ohne schwarzer oder blauer Maske.“ Da haben wir’s, mit Maske.

Das Wort Maske kommt eigentlich aus dem Arabischen, von arabisch  maskharat, was soviel wie Narr, Posse, Hänselei oder Scherz bedeuten kann. Es kommt also aus dem Arabischen. Alles kommt von irgendwo anders her, begreift das mal jemand, alles ist migriert?

Das Gesicht wird bedeckt. Rituell oder religiös dient die Bedeckung irgendeinem mehr oder oft weniger sinnvollen Zweck. Man denke an Kostüme, aber mit Kostümen haben unsere Lichtbilder überhaupt nichts zu tun. Als Schutzmaske kann sie dem Schutz des Gesichts oder Teilen davon dienen. Verhüllung des Körpers. Die Ethnologen machen es sich wieder einfach, eine Maske könne sehr unterschiedliche Aufgaben in verschiedenen Zusammenhängen erfüllen, so kann sich ihr Träger mit ihrer Hilfe in eine dargestellte Figur verwandeln, im sogenannten Tierrollenspiel etwa oder die Maskierung ermöglicht die Einübung neuer oder übernommener sozialer Rollen. Schön, hat aber nichts mit unserem Thema zu tun. Wesenheiten oder Hilfsgeister, inkarnierte Naturkräfte irgendwelcher Zwischenwelten sind uns suspekt, insbesondere wenn sie mit verwirrten Ahnen und wunderlichen Göttern vermitteln sollen. Das ist uns doch fremd.

Die fotografischen Bilder sind zu ruhig für meine Gedanken. Schützend versteckt. Glück, manchmal ein Tag, da ist alles richtig, von Anfang an – und das in Bildern erzählen. Im Moment gesichert: Moment, diese eine Stelle, wo alles in sich ruht und wohl gestimmt ist. „Jede Ordnung ist gerade in diesen Bereichen nichts als ein Schwebezustand überm Abgrund … das einzige exakte Wissen, das es gibt“, hat Anatole France gesagt. Sieh da, der schöne Schopenhauer ging mit dem Pudel, der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein Großes. Hundstage. Was aber weiß der Afghane? Was der Windhund? Was könnte der Wind, der offenbar nicht weht in diesen Bildern uns zuflüstern? Die Fotografin sagt jedenfalls nichts. „This landscape was part of my energy, my body. I loved it not because it was a view – but because I participated in it.“ Das ist von John Berger, glaube ich. Einmal kann es auch so sein. Oder wieder ganz anders. Ich weiß es nicht. Der koreanische Dichter Ko Un wollte einmal über alle Personen, die ihm in seinem Leben begegnen, ein Gedicht schreiben. Das wäre schön, oder eine Fotografie machen.

Angelika Hartmann 

zu Kunstwerk Fellbach 07.04.-28.04.2019

Ich kenne Anne Schubert schon sehr lange. Auf dem ersten Bild, das ich von ihr sah waren zwei tote Fische, die sich küssten. Und kurz darauf hingen Heuschrecken, als Ornament angeordnet bei ihr an der Wand. Ich weiß noch, wie mich die Bilder irritierten, denn ich spürte deutlich ein eigenartiges Wechselspiel zwischem leichten Ekel durch diese toten Tiere und einer insgesamten Schönheit, die mich gleich wieder vergessen ließ, dass ich mich schauderte.

In der Ausstellung heute sind die Tiere in den Hintergrund getreten und nur ganz versteckt manchmal zu entdecken. Die Arbeiten hier sind Stilleben, die meisten davon in geradezu klassischer Manier. Tiefdunkle Hintergründe, genau gesetzte Lichtpunkte, präzis in Szene gesetzte Blumen. Stilleben sind eines der klassischen Bildmotive in der Kunst. Bereits in der Antike wurde die Natur, wurden Früchte und Blumen als Dekoration und als Symbol der Fruchtbarkeit abgebildet. Im französischen spricht man übrigens im Zusammenhang mit Pflanzendarstellungen bon ‚Nature Morte‘, was ich für die Bilder hier fast noch stimmiger finde. Wir verbinden mit dem Begriff Stilleben besonders dessen Blütezeit im 17. Jhdt., wo die verschiedenen Genres des Blumenstilllebens, Jagdstilllebens üppig gedeckter Tische und Vanitas-Stilleben, die die Vergänglichkeit mit Totoenköpfen und DSanduhren symbolisierten, vielfaältige Varationen des Themas entstehen liessen.

Die Kunstgeschichte unterscheidet sicherlich zurecht zwischen diesen verschiedenen Stilen, doch die Bilder, die hier zu sehen sind, setzen sich über diese Abgrenzungen hinweg. Es sind tote Blumen, die üppig und im Überfluß über die Bildränder quellen. Käfer kriechen durch Blütenberge und die schimmernde Panzer werden zu höchst ästhetischen Bildelementen. Schlichte einzelne Blüten sind zentral in Szene gesetzt und hier sind Pflanzen zu sehen, die der Gärtner aus dem Beet entfernen und gleich in den Müll werfen würde: Löwenzahn und altes Holz. Überhaupt, die Blumen sind welk und gehören in den Abfall. Anne Schubert verwendet aber gerade diesen Müll und widmet sich ihm mit vielZuneigung und Wertschätzung. Fundstücke aus dem Wald, an denen der Zivilisationsmüll klebt -ja, es sind Hundekotbeutel und Zigarettenhüllen integriert – werden in den Adelsstand gehoben, der einen ganz neu schauen lässt, denn dass darin Schönheit liegt kann keiner leugnen, der ihre Bilder gesehen hat. In früheren Bildern von ihr sind häufig noch gebündelte Sträuße zu sehen, verwelkt, aber als Blumenstrauß erkennbar. In diesen Bildern löst sich der Strauß mehr und mehr auf, es ist, als würde noch eine zweite Ebene von Vergänglichkeit hinzu kommen, die völlige Auflösung im Universum, das kommt auf die persönliche Interpretation an. Die einzelnen Elemente scheinen frei zu schweben und der schwarze Hintergrund erscheint als Weltall.

Manche Arbeiten sind für mich als Paare zu lesen. Die Alpenveilchen zum Beispiel oder die Kristallschalen. Der Kopf geht hin und her, zwischen vorher und nachher, zwischen ganz und zerschlagen. Mir ist dabei nicht möglich zu sagen, welchen Zustand ich bevorzugen würde.

Beim Betrachten der Arbeiten stellt man sich unweigerlich den Themen Vergänglichkeit, Tod, Verlust oder Altern. Der zweite Blick, der diesen Themen Schönheit zugesteht und einen die kleine Manipulation erkennen lässt, eröffnet dem Betrachter die Möglichkeit, diese Lebensbereiche, denen wir uns alle stellen müssen, mit neuer Zugewandheit und einem offenen Augenzwinkern zu begegnen.

Deshalb empfinde ich diese BIlder auch zutiefst lebensbejahend. Sie zeigen auf, dass es auf den persönlichen Blick ankommt um zu berurteilen, ob etwas tot oder lebendig, kaputt oder in Ordnung, schön oder hässlich ist. Das Auge des Betrachters entscheidet und ordnet, am Bild wie im Leben selbst.

Blumen zu fotografieren scheint übrigens ein recht weibliches Sujet zu sein. Mir fielen sofort die Arbeiten von Luzia Simons, Kathrin Linkersdorff und Mandy Barker ein, die nur mit Müll arbeitet, aber bei den Männern musste ich doch länger nachdenken. Außer Robert Marpplethorpe oder Edward Weston ist mir niemand recht eingefallen. Und deren pralle Orchideen und Paprikas hatten wohl eine andere Motivation.

In allen Bilder von Anne Schubert spürt man auch ihre große Fähigkeit des Arrangierens. Die Blüten und Pflanzenreste sind nicht zufällig aufs Schwarz geworfen oder als Ausschnitt fotografiert. Ich stelle mir vor, wie jedes Blatt oder Grashalm vorsichtig bewegt und gesetzt und verschoben wird, wie Elemente dazu und wieder weggenommen werden, bis das perfekte Bild in den Augen der Fotografin vorliegt. Da ist sicherlich auch viel Meditation, Geduld, Hingabe und Spielfreude vonnöten – und vielleicht grinst sich manchmal auch innerlich, wenn sie für ein Skeletteilchen den richtigen Platz gefunden hat.